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Wie aus dem Umbruch eine Bruchlandung wurde

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Ein verlorenes Jahr - Roland Virkus und Gerardo Seoane (Foto: Norbert Jansen - Fohlenfoto)

Der vor der Saison angestrebte Umbruch bei Borussia Mönchengladbach wurde zu einer Bruchlandung und brachte um ein Haar den Abstieg mit sich. Warum ist das Projekt so krachend gescheitert? Die Aufarbeitung eines verlorenen Jahres.

Fast ein Jahr ist es jetzt her, dass Gerardo Seoane als neuer Trainer von Borussia Mönchengladbach vorgestellt wurde. Man hatte sich von Daniel Farke, dem Wunschtrainer von Sportchef Roland Virkus im Sommer davor, getrennt. Irgendwann im Laufe der durch die Winter-WM zerstückelten Saison waren die Vorstellungen von Trainer und Klub auseinandergedriftet. Den anstehenden Umbruch zu dirigieren, traute man Farke jedenfalls nicht zu. Auch wenn weder damals noch später öffentlich wurde, was nun genau dazu geführt hat, dass die Trennung unumgänglich wurde. 

Nun also Gerardo Seoane. Der Schweizer Erfolgstrainer, der sich nicht auf einen bestimmten Spielstil festlegen lässt und der Mannschaften und Spieler gleichermaßen entwickeln kann. »Es ist wichtig, ein Team zu formen und dass die einzelnen Qualitäten der Spieler für das Team zur Verfügung stehen. Dazu müssen wir uns den vorhandenen Möglichkeiten anpassen«, sagte Seoane bei seiner offiziellen Vorstellung. 

Ein großer Qualitätsverlust vor der Saison

Damals wusste er noch nicht, wie genau der Kader aussehen wird. Mit Thuram, Stindl, Bensebaini und kurz darauf auch Hofmann gab es einen großen Qualitätsverlust. Seoane wünschte sich »mehr Dynamik auch nach vorne, eine gewisse Geschwindigkeit«. Und auch »die Basic-Attribute, dass man einfach bissig und zweikampfstark ist in der defensiven Phase.«

Borussias Königstransfer wurde Tomáš Čvančara für über 10 Millionen Euro, um die gewünschte Offensiv-Dynamik auf den Platz zu bekommen. Der ungeplante Abgang von Hofmann wurde durch die Verpflichtung von Franck Honorat aufgefangen, der ambitionierte Zweitligastürmer Robin Hack kam aus Bielefeld und neben drei Perspektivspielern (Ullrich, Chiarodia, Ranos) wurde noch der erfahrene Max Wöber für die Innenverteidigung ausgeliehen. Letzteres angesichts des Umstands, dass Nico Elvedis Abgang erwartet wurde. 

Weigl und Neuhaus positionieren sich als Führungsspieler

Als mit Jordan dann auch noch ein weiterer Stürmer auf Leihbasis kam, sah es grundsätzlich ganz ordentlich aus, was Roland Virkus und sein Team zusammengestellt hatten. Auch weil mit Nils Schmadkte auf der neu geschaffenen Position des ‘Sportdirektors Lizenz’ zusätzliche Expertise in die sportliche Leitung geholt wurde, entstand um Borussia herum eine gewisse Aufbruchstimmung. Aus der Mannschaft heraus schien sich ebenfalls ein neuer Geist zu entwickeln. Julian Weigl und Florian Neuhaus positionierten sich neben Kapitän Jonas Omlin auch öffentlich als die neuen Wortführer mit klaren und selbstkritischen Aussagen. 

Doch es ergaben sich auch neue Probleme. Die Krebs-Diagnose bei Stefan Lainer war ein Schock, die Verletzungsanfälligkeit von Omlin entwickelte sich zu einer ernsthaften Schwierigkeit und führte kurz darauf zu einem monatelangen Ausfall des Kapitäns. In den Vorbereitungsspielen war erkennbar, dass die gesamte Struktur noch auf wackeligen Beinen stand. Der Auftakt in die Liga wurde zudem durch das Auftaktprogramm (Leverkusen und Bayern am 2. und 3. Spieltag) verkompliziert, doch die Fans nahmen die drei Heimniederlagen in Folge gelassen und respektierten, dass ein Neuanfang nicht mit einem Fingerschnippen vollzogen werden kann. 

Verständliche Unwägbarkeiten des Umbruchs

Vieles, was in der Hinrunde passierte, war noch mit den verständlichen Unwägbarkeiten eines Übergangs zu erklären. Gerardo Seoane moderierte das Ganze, ohne etwas schönzureden und er reagierte mit pragmatischen und nachvollziehbaren Anpassungen auf gewisse Entwicklungen. Er war weiter in einer Art Findungsphase, um die Qualitäten seines Kaders bestmöglich zu nutzen bzw. die vorhandenen Defizite aufzufangen. 

Es stellte sich nämlich schnell heraus, dass die Kaderbesetzung weitaus unausgewogener war, als erhofft. Zwar hatte Moritz Nicolas den Ausfall von Jonas Omlin erstaunlich gut aufgefangen und mit Rocco Reitz startete ein Spieler aus der zweiten Reihe durch, nachdem Manu Koné nie richtig in Tritt gekommen war. Doch auf der Außenverteidigerposition war Scally durch den Ausfall von Lainer überspielt und teilweise überfordert, auf links hatte man sich wider besseres Wissen allein auf Luca Netz verlassen. 

Führungskräfte nur Mitläufer und Nebendarsteller

Zwar hatte sich Netz im Vergleich zur Vorsaison im Defensivverhalten verbessert, aber das war keinesfalls ausreichend, um als Linksverteidiger in einer Viererkette zuverlässig seine Kernaufgaben zu erledigen. Als weiteres Problemfeld wurde das defensive Mittelfeld ausgemacht. Weil kein aggressiver Sechser im Kader stand, der den Laden zusammenhält und dazwischenfunkt, wurde Julian Weigl quasi in diese Rolle gedrängt. 

Der Kapitän stellte sich selbstlos in den Dienst der Mannschaft, aber er war so mit sich selbst beschäftigt, dass er nur ein Mitläufer war, aber keine feste Größe, an der sich andere Spieler aufrichten konnten. Florian Neuhaus, der als Führungsspieler eigentlich vorangehen wollte, wurde sehr schnell zu einem Nebendarsteller, weil auch Seoane keine Antwort auf die Frage fand, wie und wo man Neuhaus bestmöglich einsetzen kann. 

Plea, Honorat und Reitz tragen Borussia durch den Herbst

Nico Elvedi, der nur aufgrund mangelnder Nachfrage noch da war, musste als ‘Abwehrchef’ herhalten, auch wenn ihm dazu nahezu alles fehlt. Ko Itakura fiel lange verletzt aus, Max Wöber hatte immer wieder kleinere und größere physische Probleme und Marvin Friedrich verharrte blass in der zweiten Reihe. Im Sturm vermochte Tomáš Čvančara nach verheißungsvollem Beginn die Erwartungen nicht erfüllen, Nathan Ngoumou gab ähnlich viele Rätsel auf wie im Vorjahr und Jordan war allein schon aufgrund seiner erstaunlichen Verletzungsanfälligkeit kein Basisspieler.

Ein als Spielmacher überzeugender Alassane Plea, der schnelle und versierte Franck Honorat sowie der unerwartet durchstartende Rocco Reitz trugen die Borussia durch den Herbst. Ein stabiles Grundgerüst, an dem sich eine Mannschaft ausrichtet, gab es jedoch nicht. Das wurde auf dem Platz rasch deutlich, weil die Balance nicht stimmte. Borussia kassierte schlichtweg zu viele einfache Gegentore und wie schon in den vergangenen Jahren bekam es die Mannschaft nicht hin, kollektiv zu verteidigen. 

Das Prinzip Trial-and-Error führte nicht zur Lösung

Seoane probierte einiges aus, änderte oftmals während eines Spiels die Grundordnung und griff auch mal rigoros durch, indem er in der Halbzeit gleich vier Auswechslungen vollzog. Doch das Prinzip Trial-and-Error führte auch nicht zu einer geeigneten Lösung. Vielmehr verursachte jede Ausrichtung diverse Probleme. Für eine klassische Viererkette fehlte es den Außenverteidigern an defensiver Qualität, bei der Fünferkette wurde ein Honorat als Verteidiger verheizt und als dem überforderten alleinigen Sechser Weigl endlich ein Spieler an die Seite gestellt wurde, krankte das Offensivspiel erheblich. 

Im Verlauf der Saison wurde auch die Unausgewogenheit auf den ‘hinteren Plätzen’ im Kader deutlich. Dass Talente wie Chiarodia oder Ullrich noch keine große Rolle spielen, war eingeplant. Aber weder Herrmann, Jantschke oder auch Kramer waren - unabhängig von ihren Verdiensten und ihrer Wichtigkeit in der Kabine - echte Alternativen für einen Stammplatz. So konnte sich letztlich nur Robin Hack aufdrängen, der schließlich sogar zur Lebensversicherung für Borussia in der Rückrunde wurde.

Eine komplette Bruchlandung in allen Bereichen

Hinzu kam, dass es über die gesamte Saison hinweg viele Verletzungsprobleme gab. Manche ‘Unfälle’ lassen sich nicht vermeiden, aber regelmäßig konnten Spieler wegen diverser Schwierigkeiten nicht vollständig trainieren, wurden am Spieltag aber eingesetzt. Dass diesen dann ein paar Prozent fehlten, war logisch. Das geht vereinzelt gut, aber auf Strecke nicht. Dennoch wurde das Wintertransferfenster nicht genutzt, um eine Ausbalancierung im Kader vorzunehmen. 

In der Rückrunde stand alsdann das auf dem Prüfstand, was man unter dem Begriff ‘Umbruch’ im vorangegangenen halben Jahr auf die Beine gestellt hatte. Nun konnte man beurteilen, wie weit man schon vorangekommen war und inwieweit die hohle Phrase vom ‘Borussia-Weg’ mit Inhalt gefüllt werden konnte, damit auch die Anhänger erkennen, dass hier perspektivisch etwas aufgebaut wird. Und hier legte Borussia in allen Bereichen eine komplette Bruchlandung hin. 

Die Spieler wollten, aber sie bekamen es nicht hin

Vorletzter in der Rückrundentabelle, nur um Haaresbreite am vorletzten Spieltag mit fremder Hilfe den Klassenerhalt geschafft, die Riesenchance im DFB-Pokal durch eine unglaubliche Niederlage bei einem Drittligisten hergeschenkt - es war ein Desaster. Statt einen Grundstein zu legen, auf dem nachhaltig die neue Borussia aufgebaut werden kann, entging man nur knapp dem totalen Zusammenbruch. 

Die Spieler wollten, aber sie bekamen es nicht hin. Der Trainer konnte schon längst nicht mehr perspektivisch arbeiten, sondern musste irgendwie den sich ausbreitenden Flächenbrand eindämmen. Die defensivere Ausrichtung funktionierte nicht wirklich, weil man zwar insgesamt weniger zuließ, aber immer noch zu viele einfache Tore herschenkte. Gleichzeitig war man in der Offensive sehr harmlos und nur aufgrund der außergewöhnlichen Effektivität von Robin Hack und guter Standardsituationen nicht komplett verloren. 

Seoane stand im Wind - und hat diesem mit einer grimmigen Professionalität getrotzt

Am Ende konnte der Super-GAU so gerade noch vermieden werden. Das Vorhaben, etwas aufzubauen und Borussia neu auszurichten, ist krachend gescheitert. Wenn bei der aktuellen Saisonanalyse der sportlich Verantwortlichen die Scherben zusammengekehrt werden und man sich all die Missstände ehrlich vor Augen führt, so wird man zu der Erkenntnis kommen, dass man fast wieder bei null anfangen muss. 

Es gibt gute Argumente, an Gerardo Seoane festzuhalten, auch wenn er im letzten halben Jahr einiges an Vertrauen verloren hat. Man muss ihm zugutehalten, dass er es geschafft hat, die Mannschaft so eben noch in der Spur zu halten, während er gleichzeitig die Krise in der Öffentlichkeit nahezu komplett alleine moderieren musste. Seoane stand im Wind - und hat diesem mit einer grimmigen Professionalität getrotzt. 

Virkus genießt nur wenig Vertrauen bei den Fans

Derweil hat sich Sport-Vorstand Roland Virkus im Windschatten herumgedrückt und Nils Schmadtke konnte zumindest nach außen nicht vermitteln, wofür so ein ‘Sportdirektor Lizenz’ eigentlich da ist. Virkus ist von Amts wegen der Chef-Stratege und muss das große Ganze im Blick haben - weil er dafür geradestehen muss. Das gescheiterte Experiment mit Daniel Farke kann man ihm vielleicht noch als ‘Freischuss’ durchgehen lassen, aber den im letzten Sommer eingeläuteten Umbruch mit den diversen Personalentscheidungen hat er zu verantworten. 

Borussias Vereinsführung - das hat Präsident Rainer Bonhof klargestellt - wird an den handelnden Personen festhalten. Gerade Roland Virkus genießt unter den Fans wenig Vertrauen und es ist nur schwer vorstellbar, dass unter seiner Leitung nochmals eine ähnliche Aufbruchstimmung und Bereitschaft zur Geduld entfacht werden kann, wie im letzten Sommer. Gewiss wird ein ‘weiter so’ und lediglich an ein ‘paar Stellschrauben drehen’ nicht ausreichen, um Borussia in eine gesicherte Zukunft zu führen.

Der Anfang vom Ende mit Ansage?

Es bedarf einer veränderten und vor allem mutigeren Denkweise im gesamten Verein, um den Herausforderungen Herr zu werden. Dazu muss sich die sportliche Leitung klarer und deutlicher profilieren und positionieren - und es muss personelle Konsequenzen geben, wenn die aktuell handelnden Personen dazu nicht in der Lage sind. 

Der Spielerkader muss weiter bereinigt und ausgewogener besetzt werden. Und vor allem müssen Typen und Charaktere her, mit denen ein verlässliches Gerüst gebildet werden kann. Dazu muss man auch im wirtschaftlichen Bereich über den eigenen Schatten springen und ein gewisses - vertretbares - Risiko eingehen. Ansonsten wird man die nun abgelaufene Saison nicht nur als verlorenes Jahr in Erinnerung halten, sondern als den Anfang vom Ende mit Ansage.

 


von Marc Basten
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