Lesestoff zum Jahreswechsel

Abschied vom Gladbacher Realismus

Created by von Marc Basten
Sportdirektor Max Eberl (Foto: TORfabrik.de)

Sportdirektor Max Eberl (Foto: TORfabrik.de)

Kurz vor der Winterpause sorgte Borussias Sportdirektor Max Eberl mit seiner ›Wutrede‹ für Aufsehen. Die Werte bei und um Borussia Mönchengladbach haben sich offensichtlich verschoben. Aufzuhalten ist das nicht.

Max Eberl ist ein Vollprofi. Als Borussias Sportdirektor Mitte Dezember nach dem Spiel gegen den Hamburger SV in Hörweite der Journalisten lautstark über die Pfeifen unter den Zuschauern fluchte, war das kein unüberlegter Spontanausbruch. Eberl wusste genau, was er damit erreichen würde. Seine anschließende ›Wutrede‹ vor den Mikrofonen tat ihr Übriges: Es gab genügend Stoff für die Schlagzeilen der nächsten Tage.

Die Folgen des kalkulierten Weckrufs waren kurz darauf beim Pokalspiel gegen Leverkusen zu sehen. Nur ganz selten gab es im nun zu Ende gehenden Jahr eine derart geschlossene Unterstützung von den Rängen und eine echte Wechselwirkung zwischen Mannschaft und Fans. Auch wenn das Spiel verloren ging, fühlte sich das Drumherum richtig und gut an. Eberls Reaktion hat die Fans sensibilisiert - also ist jetzt alles wieder gut?

So einfach ist es leider nicht. Eberls Ausbruch kam zwar nicht ganz spontan, doch die Wut und Enttäuschung des 44-Jährigen waren nicht gespielt. Eberl war tatsächlich stinksauer, weil er, wie er es ausdrückte, »sein Baby« angegriffen sah und sich wehren musste. Die Pfiffe beim HSV-Spiel waren dabei nur der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Die Verdrossenheit im Umfeld wird schon längst öffentlich zur Schau getragen und die Hemmschwelle sinkt weiter - in den sozialen Medien und im Stadion gleichermaßen.

Doch warum ist das so? Müsste nicht jeder Gladbach-Fan angesichts der Entwicklung in den 10er-Jahren mit einem Dauergrinsen herumlaufen? Müssten nicht 28 Punkte in der Vorrunde tiefste Zufriedenheit auslösen, anstatt 18-jährige Talente auszupfeifen oder allen Ernstes den Rauswurf des Trainers zu fordern?

Um der Sache auf den Grund zu gehen, muss der Blick weit zurück gerichtet werden. Im Jahr 2000 (damals ging übrigens TORfabrik online) spielte Borussia Mönchengladbach in der 2. Liga. Der Verein war am Boden, doch seinerzeit wurde das Fundament für eine bessere Zukunft gelegt. Das Präsidium, welches heute noch die Fäden in der Hand hält, sorgte für die finanzielle Konsolidierung und realisierte den Stadionbau. Gleichzeitig führte Trainer Hans Meyer eine Mannschaft mit Max Eberl und Steffen Korell zurück in die Bundesliga. Borussia begann wieder Fuß zu fassen - ein langsamer und beschwerlicher Prozess.

Hans Meyer formte wie kein Zweiter den ›Gladbacher Realismus‹. Die Fangemeinde akzeptierte den alternativlosen Weg, in Demut mit kleinen Schritten voranzugehen. Während andernorts Superstars gekauft wurden, arrangierte man sich in Gladbach mit der Wirklichkeit, die eben Marcelo Pletsch statt Marcio Amoroso hieß. Als die Vereinsverantwortlichen nach dem Umzug in den Borussia-Park zu schnell zu viel wollten, drohte der erneute Kollaps. Doch die Fans trugen die Borussia durch die Zeit der Irrungen und Wirrungen mit Advocaat, Pander, Heynckes & Co. Auch der neuerliche Abstieg änderte daran nichts - im Gegenteil. Verein und Anhänger rückten noch weiter zusammen.

Während Hans Meyer in seiner zweiten Amtszeit die Borussia ›auf der Felge‹ zum Klassenerhalt führte, begann Max Eberl als Sportdirektor und läutete eine neue Ära ein. Eberl verpasste Borussia die so genannten ›Leitplanken‹ und nachdem einige kleinere und größere Schlaglöcher umfahren wurden, begann mit der Relegation 2011 unter Trainer Lucien Favre das vielbeschriebene ›Wunder von Mönchengladbach‹.

Bis dahin rekrutierte sich der Großteil der Borussenfans aus den Generationen derer, die vielleicht bessere Zeiten miterlebt hatten, aber auch die ›dunklen Jahre‹ und nachdrücklich vom Meyer’schen Realismus geprägt wurden. Doch die Fanlandschaft veränderte sich. Auf den Sitzplätzen und in den Logen fanden sich massenweise Leute ein, für die das Spiel an sich nur ein Teil einer teuer bezahlten Eventveranstaltung ist. Auf den Stehplätzen rückten die jüngeren Jahrgänge nach, dazu nahm die Bedeutung der Ultras in der Kurve immer mehr zu.

Es war vieles in Bewegung im Umfeld, was zunächst aber nicht wirklich auffiel. Der Fokus lag auf der schier unglaublichen Erfolgsgeschichte, die da auf dem Platz geschrieben wurde. Ob junge Ultras, Eventbesucher oder eingefleischte Realisten - alle genossen auf ihre Art den Gladbacher Höhenflug. Erste Risse gab es auch da schon, wie das Kapitel Luuk de Jong aufzeigte. Zunächst wurde der Stürmer - mit Nachdruck von Borussia selbst - bis zum geht nicht mehr gehypt, ehe Max Eberl für seinen vermeintlichen Fehlgriff erstmals richtigen Gegenwind vonseiten einiger Anhänger zu spüren bekam.

Doch Borussias Entwicklung führte stetig weiter nach oben, so dass die Motzer und Nörgler wenig Nährboden fanden. Auch als nach dem vorläufigen Höhepunkt mit der Champions-League-Teilnahme Lucien Favre abtauchte und alle Gladbacher in eine Schockstarre versetzte, wurde die Erfolgsstory fortgeschrieben. Die Aufholjagd unter André Schubert mit der neuerlichen Qualifikation für die Königsklasse ließ kaum Luft zum Atmen.

Während die Spielzeiten wie im Rausch vergingen, verwässerte die Fankultur zusehends. In der Kurve gab es Grabenkämpfe um die Deutungshoheit, wer oder was ein ›echter Fan‹ sei, auf der Tribüne wurde die ›Klatschpappenfraktion‹ immer größer. Auf der anderen Seite stieß der sportliche Aufstieg an seine natürlichen Grenzen. Das Champions-League-Spiel im Borussia-Park gegen Barcelona war der Gipfel des Entwicklungsprozesses. Mehr geht nicht. Vielleicht wird Borussia mal mit etwas Glück den DFB-Pokal gewinnen können, aber die Meisterschaft oder gar den Champions- League-Pokal wird es nicht geben.

Ab diesem Moment verkomplizierte sich die Situation zusehends. Wer zweimal in der Champions League dabei war, der rümpft bei der Europa League schon die Nase und wird ausfällig, wenn der Sportdirektor etwas von Saisonziel Platz 9 faselt. Entsprechend gering war die Hemmschwelle besonders in den sozialen Medien, als die Mannschaft im Herbst 2016 unter Schubert ins Straucheln geriet: Der Trainer, aber auch Max Eberl wurden unter Sperrfeuer genommen. Wenige Tage nachdem Borussia gegen Barcelona spielte.

Seitdem herrscht im Umfeld eine permanente Unruhe. Dieter Hecking hat gefühlt nicht viel mehr Kredit als Schubert. Auch Max Eberl wird immer wieder infrage gestellt, da kann er noch so viele Zakarias oder Cuisances anschleppen. Im Stadion kippt die Stimmung erfolgsabhängig extrem und obwohl Borussia als eine der wenigen Mannschaften in der Liga noch aktiv ein Spiel gestalten will, hält sich die Begeisterung über die Spielweise in Grenzen.

Grundsätzlich ändern wird sich die Gemengelage wohl nicht. Da kann Max Eberl noch so viele Wutreden halten. Die Wahrnehmung des Fußballs allgemein wurde durch die mediale Omnipräsenz in noch höhere Sphären katapultiert, es ist ein Milliarden-Business. Und Borussia ist ein Teil davon. Man hat die Erfolgsfans freudestrahlend begrüßt und verkauft ihnen allzu gerne auch noch die dritte Kollektion des Eventtrikots. Die ›Marke‹ Borussia wird weiter aufpoliert, der familienfreundliche Verein ist längst ein Global-Player - bald sogar mit eigenem Hotel.

Das alles ist nicht verwerflich. Borussia muss diesen Weg mitgehen, um konkurrenzfähig zu bleiben. Das ist unausweichlich. Genauso muss akzeptiert werden, dass sich die Fankultur - auch unter dem Deckmantel der vermeintlichen Anonymität in den sozialen Medien - neu entwickelt hat und dass das Bild im Stadion darüber hinaus von vielen Menschen geprägt wird, die mit dem Fußball an sich nicht wirklich viel am Hut haben. Es heißt ein stückweit Abschied nehmen vom Gladbacher Realismus. Er wird sicher bei vielen noch erhalten bleiben, doch nicht nur Max Eberl wird sich daran gewöhnen müssen, dass die Meyer’sche Denkweise für den typischen Borussenfan im Jahr 2018 nicht mehr prägend sein wird.

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