Einwurf nach dem Geisterderby

So macht Bundesligafußball keinen Sinn

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Der Blick von der Pressetribüne auf das Geisterderby. (Foto: TORfabrik.de)

Das erste Geisterspiel der Bundesligageschichte ist absolviert. Es war ein mehr als surreales Erlebnis. Trotz einer sportlich anständigen Darbietung beider Mannschaften hatte das Ganze nur wenig mit Bundesligafußball zu tun. Derbysieg hin oder her - aber so macht Profifußball keinen Sinn.

1976 habe ich mein erstes Bundesligaspiel auf dem Bökelberg besucht (2:1 im Derby gegen Köln) und in den folgenden Jahrzehnten kamen unzählige Partien hinzu. Seit Eröffnung des Borussia-Parks 2004 verfolge ich die Spiele der Fohlenelf von meinem festen Platz auf der Pressetribüne. Immer mit dem Laptop vor mir, um den Spielbericht noch aus dem Stadion auf TORfabrik zu veröffentlichen. Mittlerweile läuft die 16. Saison im ‘neuen’ Stadion und in all den Jahren habe ich nur bei drei Pflichtspielen nicht auf meinem Platz gesessen.

Auch am Mittwoch beim ‘Nachholderby’ gegen Köln war eigentlich alles wie immer. Ein Bundesligaspiel, mein Platz, mein Laptop. Und doch war alles ganz anders. Das erste Geisterspiel der Bundesligageschichte. Ein historisches Ereignis, sicher. Dennoch war es komplett surreal. Das Stadion war leer, auf der Tribüne hatten sich einige offizielle Vereinsvertreter eingefunden, oben saßen wir Journalisten, ein paar Ordner liefen herum. Die Beschallung aus den Lautsprechern war gedämpft, die Ansagen des Stadionsprechers hatten das Timbre einer Trauerfeier.

Hier sollte also das rheinische Derby stattfinden? Auf dem Platz machten sich die Mannschaften wie gewohnt warm. Oben auf der Tribüne waren die Kommandos deutlich zu hören, das Klatschen der Bälle beim Schießen ebenso. Ich fühlte mich an ein Abschlusstraining im Europacup erinnert, das am Vorabend der Partie immer im leeren Stadion stattfindet. Dass sich da jedoch gerade zwei Bundesligamannschaften vorbereiten, um in wenigen Minuten eines der größten und wichtigsten Spiele der Saison zu absolvieren? Unmöglich.

Doch es war tatsächlich so. Kurz darauf wurde die ‘Seele brennt’ in Zimmerlautstärke gespielt, die Mannschaften kamen wie gewohnt auf den Platz und formierten sich zur Begrüßung. Es wirkte wie eine Show für die Fernsehkameras in einer Pappkulisse. Es hätte nur noch gefehlt, dass die Spieler nach der Seitenwahl vor die Nordkurve gelaufen wären, um sich bei den imaginären Fans zu bedanken und sich ein letztes Mal vor dem Anpfiff pushen zu lassen. Dann folgte wirklich der Anpfiff - auch wenn Schiedsrichter Aytekin ihn wiederholte, weil er einen Frühstart hinlegte.

Der Ball zirkulierte durch die Gladbacher Reihen, die Kölner formierten ihren Defensivverbund. Man hört die Kommandos und stellt fest, dass die Spieler wirklich viel kommunizieren. Das hat natürlich was. So wird Patrick Herrmann einmal vom Trainerteam ins ‘Achtung’ gestellt, als er bei einem eigenen Standard nach vorne laufen will, obwohl er zur Konterabsicherung vorgesehen ist. Solche Details, genauso wie Positionsanweisungen untereinander, bleiben einem normalerweise verborgen.

Dennoch fühlt sich alles falsch an, was da passiert. Die Spieler nehmen das Ganze erstaunlich seriös. Sie laufen viel, zeigen Einsatz und bemühen sich. Betrachtet man das Spielgeschehen für sich allein, ist der Unterschied zu einem normalen Bundesligaspiel kaum wahrzunehmen. Die Zweikampfintensität erscheint etwas gebremster, wohl weil die Spieler sich weniger von Emotionen leiten lassen. Sie sind Profis und sie funktionieren, weil sie es können. Dennoch wirkt es im Gesamtbild eigenartig steril.

Als Breel Embolo das etwas überraschende Führungstor erzielt, jubelt der Torschütze in Richtung der leeren Ränge und lässt sich von den Kollegen feiern. Das ‘Döp-Döp’ erklingt, aber mehr denn je macht sich bei mir das Gefühl breit, dass das alles eine skurrile Inszenierung ist. Ist da jetzt wirklich der Führungstreffer im Derby gefallen? Ich habe schon viele Derbys gesehen und Tore gegen den FC schmecken immer ganz besonders süß. Doch diesmal ist der Geschmack nichtssagend und fad.

Ich bin etwas erstaunt, wie sehr mir die Atmosphäre fehlt. Dieses ‘Grundrauschen’ in einem vollen Stadion, diese fühlbare Anspannung bei tausenden Menschen mit situationsbedingten Reaktionen und Anfeuerungen. Dabei schaue ich Fußball immer mit dem vollen Fokus auf das Spiel und wenn ich mir später einzelne Partien der Borussia zur Analyse im Re-Live anschaue, stelle ich den Ton ab, weil mich der Kommentator ablenkt. Bislang dachte ich, dass ich die ‘Folklore’ drumherum nicht zwingend brauche, um richtig in ein Fußballspiel einzutauchen. Seit diesem Abend im Borussia-Park sehe ich das anders.

Im Verlauf des Spiels gelingt es mir, für einige Momente die äußeren Umstände auszublenden. Doch dann gibt es da wieder eine Situation auf dem Platz, auf die normalerweise tausende Menschen gleichzeitig lautstark reagieren würden. Aber bis auf ein paar Rufe, die von den leeren Rängen widerhallen, bleibt es ruhig und sofort ist das Gefühl wieder da, dass hier und heute etwas nicht stimmt. Immerhin wird mir in der Schlussphase klar, dass da wirklich die Fohlenelf spielt. Sich selbst nochmal in Bedrängnis bringen und in den Schlussminuten aber mal so richtig ins Schwimmen zu geraten - das ist, Geisterspiel hin oder her, ‘typisch Borussia’. Tatsächlich kochen bei mir kurz die gewohnten Emotionen hoch, aber wirklich nur kurz.

Als der Schlusspfiff ertönt, bin ich einfach nur erleichtert, dass es vorbei ist. Es fällt mir schwerer als sonst, den Spielbericht zu schreiben, aber Job ist Job. Während ich schreibe, sehe ich die Spieler geschlossen die Stufen der Nordkurve erklimmen. Hinter dem Stadion haben sich einige hundert Fans eingefunden und die Mannschaft feiert mit ihnen. Ein Hauch von Derbyatmosphäre schwappt herüber. Schön - oder doch eher bekloppt? Schließlich wurde die Partie ja nicht zum Spaß hinter verschlossenen Türen ausgetragen.

Kurz darauf laufe ich durch das menschenleere Treppenhaus im Stadion. Auf dem Weg in den überfüllten Presseraum versuche ich, den Abend irgendwie einzuordnen. Derbysieger - ja. Champions-League-Platz - ja. Erstes Geisterspiel der Bundesligageschichte - historisch. Aber unter dem Strich? Ein gruseliger Abend. Für mich steht fest, dass Bundesligafußball unter diesen Bedingungen keinen Sinn macht.

Sicher, im Moment gibt es keine Alternativen als Geisterspiele, um den Spielbetrieb aufrechtzuerhalten. Doch eine Aussetzung, Verschiebung oder sogar eine Beendigung der Liga erscheint mir vernünftiger, als die Bundesliga auf diese unwürdige Art und Weise weiterlaufen zu lassen. Wobei sich das ohnehin von einen Tag auf den anderen erledigen kann und vermutlich auch wird: Sobald der erste Corona-Fall innerhalb einer Mannschaft auftritt, muss gehandelt werden. Dann werden auch Geisterspiele keine Lösung mehr sein. Insoweit ist es nicht die Frage, ob es passiert, sondern wann.

 


von Marc Basten

 

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